Quantcast
Channel: Volksmusik – Norient
Viewing all articles
Browse latest Browse all 17

Schweizer Volkslieder begeistern Weltmusik-Fans

$
0
0

1'000 Künstler aus über 40 Ländern auf 20 Bühnen verwandelten vom 30. Juni bis zum 3. Juli die thüringische Kleinstadt Rudolstadt in ein Weltmusik-Mekka. Aus der multikulturellen Vielfalt des 21. «Tanz- und Folkfestivals» sprudelten alpine Klänge hervor und setzten den diesjährigen Länderschwerpunkt «Schweiz» ins Gehör und Gedächtnis der 90'000 Besucher.

Sieben Blasmusiker 55 aufwärts marschieren in rot-grüner Tracht durch ein menschenüberfülltes mitteldeutsches Städtchen. Es ist die Bandella la Castellana aus Bellinzona, eine der wenigen übrig gebliebenen Tessiner Tanzkapellen. Die grauhaarigen Herren mit den perkussiven Holzschuhen sind die wohl traditionellsten Repräsentanten des Länderschwerpunkts Schweiz auf dem 21. Folk- und Weltmusikfestival in Rudolstadt. Im eidgenössisch-musikalischen Spektrum stellt das Christian Zehnder Quartett das avantgardistische Gegengewicht.

Mit der experimentellen Kombination aus Obertongesang, grummeligen Baritonvokalisen, krächzender Stimmakrobatik und kunstvollem Jodel wurde der Zürcher mit seinem Duo Stimmhorn zunächst im grossen nördlichen Kanton entdeckt (erstes Album: melken 1996). Seinen anfänglichen Erfolg in Deutschland sieht er rückblickend als Gütesiegel, das ihn den Weg zur Akzeptanz in Schweizer Gefilden bahnte. In jeglicher Hinsicht grenzüberschreitend ist sein neues Programm «Schmelz», welches vorerst die letzte Beschäftigung mit dem «Fernblick auf den Alpenkamm» sein wird. Es passt bestens in die sakrale Atmosphäre der Rudolstädter Stadtkirche und wird mit Ovationen gefeiert. Die Offenheit des deutschen Publikums schätzt Zehnder sehr: «Jedes mal fahren die Leute auf meine Musik ab, es ist fast schon schöner als zu Hause.» Im Vergleich beobachtet er, dass in einem Schweizer Konzert die Überwindung der Schönklang-Hörgewohnheiten mehr Zeit braucht – prallen doch in der Heimat Fremdes und Eigenes stärker aufeinander. Für Schweizer Musiker in Deutschland scheint die Mischung aus Exotik und Fraternität von Vorteil zu sein: «Das Publikum sieht uns als die schrulligen Nachbarn – und die hat man eben gerne», so  Zehnder.

«Neue Volksmusik»: Tradition und Provokation

Die 12 musikalischen Botschafter stellen auf dem grössten Folk- und Weltmusikfestival in Deutschland unter Beweis, dass die Schweiz mehr als Alphorn, Schwizzerörgeli und Naturjodel zu bieten hat und dabei ist, ihre Alpenklänge kräftig zu entstauben. Es gibt nicht nur Rebellen wie Christian Zehnder oder die amerikanisch-schweizerische Blues-Jodlerin Erika Stucky, die in Rudolstadt Jimi Hendrix’ Woodstock-Repertoire ins jazzige Heute holt. Neben diesem zügellosen Umgang mit den Traditionen hat sich Mitte der Neunziger Jahre die Bewegung der «Neuen Volksmusik» herausgebildet (vgl. Norient-Artikel «Stubete in der Grossstadt»). Deren Pionierin ist die schrille Jodlerin Christine Lauterburg, die einst zu sphärischem Techno jauchzte. Den eidgenössischen Jodlerverband provozierte sie, weil sie sich in Lederhosen auf die Bühne stellte und mit eigenhändiger Geigenbegleitung jodelte. Die unantastbaren Reglemente erlaubten jedoch nur Tracht und Schwyzerörgeli. «Was die Lauterburg singt, ist keine Kultur» urteilten die Jodelpuristen und schlossen sie kurzerhand aus dem Verband aus. Lauterburg ist froh, dass das damalige Unkraut nun Blüten trägt: «Ich war voller Enthusiasmus für diesen Gesang und habe überhaupt nicht gewusst, was ich alles falsch mache. Doch am Ende ist es das Lebendige, was sich durchsetzt.» In Deutschland bleibt Christine Lauterburg von solcherlei Debatten und prüfenden Blicken verschont und bittet mit ihrem Trio Doppelbock zum Tanze. Der Rudolstädter Unvoreingenommenheit begegnet sie nun schon zum dritten Mal: «Ich glaube diese Begeisterung gibt es in der Schweiz weniger. Da kommen dann viele und schauen, ob ich wirklich so schlimm bin, wie es geschrieben steht oder ob ich zu wenig artig angezogen bin.»

Jodeln ist cool, doch lange nicht subversiv

Auf dem Folk- und Weltmusikfestival in Rudolstadt strömt am Samstagnachmittag eine ganze Horde Jodelwilliger in den Vortragssaal der Stadtbibliothek. Christine Lauterburg führt ihren Crashkurs mit so viel Schwung und Hingabe, dass ihrer holperigen Didaktik viel Nachsicht entgegengebracht wird. Ohne Scheu vor falschen Tönen singen die Teilnehmer jeglichen Alters aus voller Kehle mit, entschlüsseln Berndütsche Liedtexte und sind überengagiert, den Schweizer Naturjuchz möglichst authentisch nachzuahmen. Dass nur 150 Kilometer nördlich von Rudolstadt eine Jodeltradition besteht, wissen sicher die wenigsten. Das Lerbachtal im mitteldeutschen Gebirge Harz ist die einzige Region ausserhalb der Schweiz, in der jährlich Jodelwettstreite stattfinden.

Impressionen vom Jodlerworkshop mit Christine Lauterburg

Die «Neue Volksmusik» um Lauterburg, Trio Doppelbock und die Helvetic Fiddlers dominiert den Länderschwerpunkt des Festivals. Stimm-Anarcho Christian Zehnder grenzt sich ab von der Bewegung. Auch stört er sich am Begriff «Volkmusik», den er von der rechten Denkkultur der Schweiz okkupiert sieht und darum die neutralere Bezeichnung «Neue alpine Musik» vorschlägt. Allerdings findet er wenig daran wirklich neu: «Ich finde es toll, dass die traditionelle Musik aufgemischt und befreit wird. Aber es wird auch viel aufgekocht – und es ist lange nicht so progressiv, wie man vielleicht denken mag.» Nach 15 Jahren, so findet er, sei die Zeit reif, mutiger zu werden. Beim Jodlerverband anzuecken ist schliesslich keine grosse Kunst.

Neugierig ins Nachbarland geschielt

Aber vielleicht ist es gerade der bewahrende Anteil an der «Neuen Volksmusik», der beim deutschen Publikum etwas auslöst. Insbesondere die Ostdeutschen haben sich von ihrer eigenen, sowieso nur rar überlieferten Volksmusik zunehmend entfremdet. Zudem war der Umgang mit der traditionellen Musik zu DDR-Zeiten trotz diverser Förderungen befangen. Ein Beispiel ist die Geschichte des Rudolstädter Festivals selbst: 1955 wurde es erstmalig als «Fest des deutschen Volkstanzes» veranstaltet. Von der ursprünglich gesamtdeutschen Ausrichtung mutierte es immer mehr zur Paradebühne für Folkloretanzgruppen aus sowjetischen Staaten. Aber neben den ideologischen Lenkungen bis 1989 sind die Volksmusiktraditionen in Deutschland lange nicht so vielfältig und dicht gesät wie in der Schweiz, was eine gewisse Sehnsucht schürt. Mit Neugier wird zu dem verfolgt, wie es den Schweizern gelingt, sich jenseits des Musikantenstadels respektvoll und doch leichtfüssig mit der eigenen Kultur auseinander zu setzen. Christian Zehnder spürt dieses deutsche Bedürfnis: «Das ist die Suche nach der eigenen Identität nach dem verrückten Jahrhundert, das sie hinter sich haben. Wir haben da etwas bewahrt und das berührt die Deutschen.»

Jürgen B. Wolff war einer der Hauptakteure im DDR-Folkrevival in den Siebzigern und ist seit dem Nachwende-Neubeginn Mitorganisator und Hausgrafiker des Rudolstädter Festivals. Bevor er damals begann sich mit deutschen Volksliedern zu beschäftigen und die Zeitlosigkeit der alten Texte schätzen zu lernen, tauchte er mit seiner Band Folkländer zunächst in die irische Musik ein. Um sich dem Eigenen überhaupt nähern zu können, musste er den Blick eines Fremden einnehmen. Die Innovationsfreude im Umgang mit den wiederentdeckten Traditionen hat er seinerzeit jedoch vermisst. Beim Verfolgen der «Neuen Schweizer Volksmusik» ist Wolff sogar ein bisschen neidisch, «dass man das alte Material einfach unverblümt modern interpretieren kann. Bei der Musik der Kummerbuben denkt man zum Beispiel, dass sie schon immer so geklungen haben muss. Das liegt an der Kraft der Traditionen, die da verarbeitet werden.»

Volkslieder von morgen

Die Kummerbuben sind der Nachwuchs in der «Neuen Volksmusik», auch wenn sie nicht planen in den Kern der Bewegung vorzudringen. Die sechs Berner Rampensäue haben Schweizer Volkslieder durchstöbert und sie aufgerockt, durchgerumpelt, tanzbar und urban gemacht. Sie zählen sich durchaus zu den Musikern, die sich mit der Schweizer Volkskultur auseinander setzen: «Es ist schon etwas anderes, denn wir bearbeiten die Jahrhunderte alten Texte und bringen sie in eine neue Musik. Die ist aber nicht unbedingt typisch schweizerisch.» In Rudolstadt haben sich auch viele selbstgeschriebene Lieder in ihr Repertoire gemischt. Auf der grossen Bühne im Heinepark kündigt Frontman Simon Jäggi die eigenen Kreationen als «zukünftige Schweizer Volkslieder» an, stellt aber im Nebensatz klar, dass diese prätentiösen Worte nur ironisch gemeint waren.

Würden die Kummerbuben der Volksmusik-Definition ihres Vorbildes Endo Anaconda folgen, müssten sie in ihren Zwischenmoderationen keine Bescheidenheit mehr walten lassen. Der Berner Blues-Poet, der mit seiner Band Stiller Has ebenfalls zur Schweizer Rudolstadt-Eskorte gehört, sieht das nämlich ganz simpel: «Ich denke in der Schweiz macht Stiller Has neue Volksmusik. Wenn Schulklassen die Lieder von einem singen und man geflügelte Worte in die Welt setzen und das singen kann, dann macht man Volksmusik.»

Endo Anacondas Songs sind schon dabei zu Volkslieder zu werden. Nicht zuletzt, weil sein düster-schalkhaftes Lied «I hole di o» mittlerweise von Christine Lauterburg gejodelt wird, Seite an Seite mit «Ds Vreneli ab em Guggisbärg» und «Anneli». Wenn die beim Rudolstädter Festival angekurbelte Schweiz-Begeisterung bleibt, wird man diese alten und neuen Volkslieder im verwechselbarem Nebeneinander nicht nur in Schweizer Tälern und Berner Gassen, sondern bald auch auf thüringischen Wiesen singen.

Eine ganze Sendung mit ausführlicheren Berichten und Interviews zum Länderschwerpunkt Schweiz des 21. TFF in Rudolstadt gibt es im Sommerradio auf Radio Bern RaBe am 25. Juli um 18.00 Uhr.

Hier noch die kurzen Radioberichte von Mariel Kreis und Theresa Beyer, die in der Nachrichten-Sendung RaBe-Info auf ausgestrahlt wurden:


Viewing all articles
Browse latest Browse all 17

Latest Images





Latest Images